Eine Bekannte erzählte mir neulich staunend und etwas verschämt von ihrer neunjährigen Tochter, die sich offenbar lebhaft für Sex interessiert und entsprechende Fragen stellt. Ich konnte sie mit meinen Erinnerungen aus der dritten Klasse beruhigen, aber ich frage mich: Vergessen die meisten Erwachsenen, wie sie selbst als Kind oder Teenager waren, was sie dachten und fühlten, wie intensiv sie sich freuten, sehnten und litten? Meine Mutter behauptete zum Beispiel – aber da ging es schon um meine Tochter – als Kind könne man doch noch gar nicht richtig verliebt sein. Wie kam sie darauf? Hatte sie eine Kinderliebe wirklich nie selbst erlebt – in Kriegstagen durchaus denkbar – oder hatte sie es vergessen?
Das menschliche Interesse an Liebe und Sex scheint jedoch tatsächlich nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt zu sein. Mathematische, musikalische oder sprachliche Begabung ist ja auch nicht allen gleichermaßen angeboren; warum sollte es bei sexueller anders sein? Wenn aber jemand sinnlich, sexuell oder romantisch (oder wie auch immer) veranlagt ist, dann ist er oder sie es das ganze Leben lang, von Anfang bis Ende. Unser innerstes Wesen entsteht und verschwindet nicht einfach, es begleitet uns das gesamte Leben hindurch. Ein sexuell interessierter Erwachsener war sicher auch schon ein sexuell interessiertes Kind und wird auch ein sexuell interessierer alter Mensch sein, davon bin ich überzeugt.
Bei mir haben romantisches und körperliches Verlangen immer schon eine bedeutende Rolle gespielt. Wenn ich niemanden habe, den ich lieben, anhimmeln oder begehren kann, fehlt mir etwas. Das ist heute nicht anders als früher.
Schon mit Fünf war ich in Sven aus dem Kindergarten verliebt, mit Sieben in Timm Thaler. Mit Acht verliebte ich mich in den Protagonisten aus einem Zeichentrickfilm, von dem ich nur das letzte Stück sah. Am Ende starb der Junge heldenhaft und ich weinte bitterlich. Die Erinnerung an die Verzweiflung, nicht zu wissen, wer er war und ihn niemals wiederzusehen, ist mir immer noch sehr lebhaft in Erinnerung, und hin und wieder in den letzten Jahren habe ich aus Neugier versucht herauszufinden, welcher Film das war, aber auch das Internet kann mir nicht helfen.
Mit Neun war ich lange in René aus meiner dritten Klasse verliebt. Wir waren befreundet und spielten viel zusammen, wir besuchten einander und er zog mich ins Vertrauen und zeigte mir seine „geheimen“ Experimente. Ich durfte an den Flaschen mit dunklem Gebräu riechen, die er im Schrank versteckt hielt, und die wohl Shampoo oder sowas ergeben sollten. Ich träumte davon, dass wir beim Schulfasching als Prinz und Prinzessin gehen und Händchen halten würden, sogar einen scheuen Kuss konnte ich mir vorstellen, aber das war das Äußerste meines kindlichen Wunschdenkens.
Dass mich körperliche und geistige Liebesdinge darüber hinaus damals bereits brennend interessierten und beschäftigten, zumindest theoretisch, beweist ein Schulheft voller einschlägiger „Berichte“ aus dieser Zeit. Da gibt es unter anderem „Berichte“ über das Küssen, das Liebesbriefschreiben, über das Heiraten und den hier abgedruckten „Bericht über den Frauenstriptis“. Ich meine mich zu erinnern, dass meine Kenntnis von einem Striptease aus einem französischen Film stammte, Belle de Jour oder etwas ähnliches muss das gewesen sein.
Die ersten „Berichte“ entstanden mit zwei gleichaltrigen Freundinnen. Eine der beiden, Anett, wohnte in meiner Nachbarschaft und wir trödelten viermal in der Woche gemeinsam zum Turntrainung und zurück. An den Wochenenden fuhren wir zu Wettkämpfen und in den Ferien ins Trainingslager. Ich erinnere mich an stundenlang durchkicherte Nachmittage, aber später schrieb ich die Texte voller Eifer auf und illustrierte sie auch selbst. Als die anderen beiden das Interesse daran verloren, spann und schrieb ich noch eine Weile allein weiter. Selbstverständlich hielt ich das Heft gut unter Verschluss und zeigte es keinem Erwachsenen – und vergaß es mit den Jahren.
Als ich mehr als dreißig Jahre später das Erotikmagazin „Séparée“ gründete, hatte ich keine Erinnerung mehr daran. Erst als eine alte Schulkameradin später zu mir sagte „War doch klar, dass du mal sowas machst“, wurde mir bewusst, dass das Magazin wohl meine Bestimmung gewesen ist.