Im Hause meiner Großmutter hing die Fotografie eines stattlichen jungen Mannes, der jeden seiner Betrachter so stolz und gleichermaßen traurig ansah, dass es einem das Herz zuschnürte. Im Hause meiner Großmutter gab es viele Bilder, doch keines ähnelte diesem aufs entfernteste, dieser verträumte Blick haftete keiner der anderen Personen an. Wenn ich meine Großmutter nach dem Bildnis fragte, bekamen ihre Augen einen seltsamen Glanz, doch ihre Antwort befriedigte meine Neugier nie. „Irgendein Fremder”, wiederholte sie jedes Mal beharrlich, „der in unser Atelier kam, um sich porträtieren zu lassen. Es hat keine Bedeutung, es ist einfach nur ein ergreifendes Bild.“
Meine unbändige Fantasie untersagte mir, ihr zu glauben. Mehr als einmal nahm ich das kleine gelbliche Foto von der Wand, wo sie einen hellen Fleck hinterließ, und betrachtete eingehend die Rückseite des Bildes. Immer wieder musste ich mich davon überzeugen, keine heimliche und noch so winzig geschriebene Widmung übersehen zu haben. Da stand nichts außer Juni 1932. Meine Großmutter war zwanzig und bereits seit einigen Monaten verheiratet. Meine Mutter, das erste Kind dieser Ehe, wurde erst im Sommer darauf geboren. Ich war enttäuscht, dass meine Rechnung nicht aufging, ich hätte diesen schönen, verträumten Mann gern zum Großvater gehabt. Meinen leibhaftigen Großvater hatte ich nie wirklich kennen gelernt, er starb als ich gerade meine ersten Schritte versuchte. Ich kannte ihn lediglich von alten Bildern und was ich sah, gefiel mir nicht. Er wirkte immer steif und förmlich, nie sah man ein Lächeln in seinen Augen oder um die Mundwinkel spielen, nicht als junger Mann bei seiner Hochzeit, noch später, von seinen Kindern und schließlich von seinen Enkelkindern umgeben. Ich fragte mich manchmal, warum meine Großmutter ihn und nicht jenen anderen geheiratet hatte, der so hinreißend leidend vor sich hinblickte, die blonden Locken in der Stirn, den Hut elegant zwischen zwei schlanken Händen baumelnd. Und einmal, noch unter dem schützenden Deckmantel kindlicher Naivität, fragte ich meine Großmutter danach. „Du liebe Zeit, wenn das so einfach gewesen wäre!“, rief sie erheitert aus und schlug die Hände vor der Brust zusammen. Zu weiteren Geständnissen ließ sie sich niemals hinreißen.
All dies wäre vielleicht nie wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins gedrungen, hätten mich diese Erinnerungen nicht eines Tages unverrichteter Dinge eingeholt. Unnötig zu erwähnen, dass dies an einem Ort geschah, an dem ich es niemals vermutet hätte und zu einer Zeit, die mir sehr ungeeignet dafür schien.
Ich reiste einer Tagung wegen in die dänische Provinz. Mir ging die Rede, die zu halten ich gebeten worden war und die mich etwas nervös machte, durch den Kopf … und ich vergaß sie in dem Moment, in dem ich mein Abteil betrat. Ich sah mich einem gutaussehenden Mann Anfang dreißig gegenüber, der mir vage bekannt vorkam. Er stutzte, als sich unsere Blicke trafen. Ich durchkämmte mein mürbes Hirn, wo wir einander wohl schon einmal begegnet waren, es fiel mir nicht ein. Gerade als ich ihn ansprechen wollte, kam er mir zuvor.
„Ich frage mich gerade, woher ich dich kenne“, sagte er in fast akzentfreiem Englisch.
Wir brauchten eine geraume Zeit, um festzustellen, dass wir uns tatsächlich nie begegnet sein konnten. Wir waren nie zur selben Zeit am selben Ort gewesen. Erst als er ratlos in die Polster zurücksank, sein Gesicht halb unter hellen Locken verborgen, und mich durch den Schleier halb vergessener Erinnerungen hindurch verklärt ansah, dämmerte mir, an wen er mich erinnerte. Immerhin hatte ich das verblichene Bild im Wohnzimmer meiner Großmutter viele Jahre nicht mehr gesehen. Ich wusste nicht einmal, wo es nach ihrem Tode hingekommen war. Doch im Moment beschäftigte mich eine vollkommen andere Frage. Woher kannte er mein Gesicht?
Ich erzählte meinem Gegenüber, der sich mir als Adrian vorstellte, von jenem Bild, das ein Bildnis von ihm hätte sein können, lägen nicht mehr als sechzig Jahre zwischen der Fotografie und dem Original.
„Mein Großvater Carl, kein Zweifel“, sagte er, als ich geendigt hatte. „Es ist absolut unwahrscheinlich, doch ich glaube, ich bin im Besitz des Gegenstücks zu diesem Bild. Eine sehr schöne Frau, diese Eleonore. Deine Großmutter?“
Ich nickte verwirrt.
„Du siehst ihr sehr ähnlich.“
Natürlich musste ich das vermeintliche Bild meiner Großmutter mit eigenen Augen sehen, und da es sich in Adrians Kopenhagener Wohnung befand, gingen wir gleich nach unserer Ankunft gemeinsam dorthin. Es war Samstag, und meine inzwischen völlig nebensächlich gewordene Rede fand erst am Montag statt. Ich war extra ein paar Tage eher nach Dänemark gekommen, um mir die Stadt der kleinen Meerjungfrau anzusehen. Ich hatte viel Zeit und meine Neugier kannte keine Grenzen.
In Adrians winziger Dachwohnung herrschte gemütliches Chaos, und nachdem er mich mit Erdbeeren und Rotwein versorgt hatte, machte er sich in der wohlsortierten Unordnung seiner Bleibe auf die Suche nach dem fraglichen Bildnis. Er fand es fast augenblicklich. Unglaublich, es war tatsächlich ein Foto von meiner Großmutter. Auf keinem Bild hatte ich sie so schön gesehen, die Augen so strahlend. Auf der Rückseite stand in ihrer verschnörkelter Schrift: Auf ewig deine Eleonore und das Datum 23. Juni 1932.
„23. Juni, das ist morgen“, sagte ich.
Adrian sah mich vielsagend an. „Es ist gewiss kein Zufall, dass wir uns getroffen haben, nicht unter diesen Umständen. Ich glaube nicht an Zufälle.“
Ich auch nicht, dachte ich, nur diesmal macht es mir Angst. Doch ich schwieg und lächelte nur. Es war ein Spiel nach meinem Geschmack und nicht zuletzt mir vorbestimmt, also spielte ich.
„Vielleicht ist uns das Leben bestimmt, das sie nicht haben konnten“, fuhr er fort und berührte dabei zärtlich meine Hand.
Ich entzog mich seinen schmalen Fingern nicht, die genau so waren wie auf dem Bild seines Großvaters, noch erwiderte ich ihren Druck, obwohl beide Reaktionen einander blitzschnell in meinem Kopf ablösten. So blieb ich denn reglos im Bann dieser elektrifizierenden Berührung sitzen und bebte leise. Wir kannten uns kaum einen halben Tag, doch ergriff dieser junge Däne mit einer derartigen Geschwindigkeit Besitz von meinen Gefühlen, von meinem Leben, dass mich schwindelte.
Und das Schlimmste war, ich mochte dieses Schwindelgefühl, ich wollte, dass es niemals aufhörte. Der kurze Augenblick der Berührung war von solcher Intensität, dass sie mir Stunden zu währen schien. Mir war, als hätten wir uns nicht eben erst zum ersten Mal getroffen, sondern lediglich wiedergefunden. Es schien, als hätten sich die Erinnerungen, Gefühle und Hoffnungen unserer Großeltern auf unerklärliche Weise auf uns übertragen.
Nicht zuletzt war Adrian sicherlich von der Abwesenheit eines Eherings an meinem Finger zu seiner kühnen Prognose ermutigt worden, und das Kind sah man mir ebenfalls nicht an. Ich wirkte viel jünger als ich war, mit achtzehn war ich nicht schlanker gewesen, ich trug bunte Schlaghosen und mein langes Haar ungekämmt. Kurz, ich sah nicht aus wie die typische Mutter. Obwohl ich stolz auf mein kleines Mädchen war, das Abbild ihres Vaters und das süßeste Geschöpf auf Erden, besonders jetzt, da sie auf ihren krummen Beinchen unsicher durch die Gegend wackelte, mochte ich Adrian nicht von ihr erzählen. Es gab keinen Platz für ihn in der Wirklichkeit, in der ich lebte, wozu ihn also mit den fernen Dingen der Realität konfrontieren? Ich wollte einfach nicht, dass er aufhörte, seine wunderbar irrsinnigen Träume mit meiner Gestalt zu beleben und mich glauben zu machen, ich sei die Frau, nach der er seit Jahren gesucht hatte und ohne die er nun, da er sie endlich gefunden hatte, nicht mehr leben könne.
Spät in der Nacht kehrten wir aus dem Restaurant zurück. Nach der ersten Flasche Wein hatte sich die Realität in einen dunklen Winkel verkrochen, nach der zweiten schlief sie tief und fest. In Adrians nur von Kerzen erleuchteter Dachstube existierten keine Erinnerungen außer die unserer Großeltern, deren Schicksal zu teilen uns vorbestimmt war.
„Heute Nacht vor vierundsechzig Jahren …“, begann Adrian bedeutungsschwer und sah mir tief in die Augen.
Die Realität erwies sich als Langschläfer, genauer gesagt kam sie den ganzen Sonntag nicht aus den Federn. Ich hatte vergessen, was es war, dass ich Adrian am Vortag verzweifelt versucht hatte zu erklären. Ich hatte vergessen, dass ich ihm überhaupt etwas sagen musste. In Adrians Gegenwart verschwamm die Zeit, er wurde zu Carl und ich zu Eleonore. Wir liefen durch den Schlosspark Fredriksberg, in dem es leicht war, die Zeiten durcheinanderzubringen und die Gegenwart zu verleugnen. Unsere Identitäten verschmolzen unter Bäumen, die Zeugen der kurzen Romanze unserer Großeltern gewesen waren und die ihre Erinnerungen auf uns übertrugen. Wir hatten uns endlich wiedergefunden. Hinter uns lagen vierundsechzig Jahre undeutlich gewordener Träume. Das mächtige Gefühl, das mit diesem lang ersehnten Wiedersehen einherging, war schier unerträglich. Diese nie gelebte, nie beendete Liebe suchte uns mit einer Macht heim, die jenseits jeglichen Fassungsvermögens lag.
Erst als Adrian mich am Montagmorgen zum Zug nach Odense brachte, schlug die Realität nach ihrem langen Schlummer die Augen wieder auf. Ich sah mein kleines Mädchen, so zart und hilflos, und ich sah ihren Vater, dessen wunderbare, dennoch reale Liebe mich erfüllte und glücklich machte. Daran hatte sich nichts geändert.
„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte Adrian mit unsicherer Stimme.
Wir hatten beide Tränen in den Augen. Ich musste tief durchatmen, bevor ich ihm etwas darauf erwidern konnte.
„Haben sich unsere Großeltern je wiedergesehen?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Nun, dann hast du die Antwort“, entgegnete ich so gefasst wie möglich. Innerlich zitterte ich. Ein einziges Wort des Widerspruchs, eine einzige Geste des Protests hätte mich wanken lassen, doch Adrian nickte stumm und ließ mich gehen.