Vögeln, zwitschern, tirilieren

Was macht eine Stimme erotisch? Wieso verströmen Menschen, die auf der Bühne stehen und singen, oft eine fast magische sexuelle Anziehungskraft? Dabei müssen sie nicht einmal „schön“ singen, oft ist sogar das Gegenteil der Fall.

Man lernt nie aus, nicht einmal bei den Dingen, die einem am vertrautesten sind, die man Tag für Tag um sich hat oder seit vielen Jahren tut. Ich glaubte, meinen Körper sehr gut zu kennen, immerhin betreibe ich seit frühester Kindheit intensiv Sport. Körperbeherrschung in dem Sinne, dass man sich von mangelnden körperlichen Fähigkeiten nicht in seinen Aktivitäten einschränken lässt, war mir immer schon wichtig. Ebenso wie das ungehemmte Ausleben meiner Sexualität – dem Gegenpol disziplinierter Körperertüchtigung. Dort geht es zwar auch um den Körper, aber darum loszulassen, sich fallen zu lassen, sich zu vergessen und hinzugeben. Dass es dazwischen aber noch eine weitere Facette der Körperbetätigung gibt, die beide Seiten – Körperanspannung und Loslassen – erfordert und vereint, erfuhr ich kürzlich mit Staunen. Beim Gesangsunterricht!

Viele Menschen glauben, dass man entweder singen kann oder nicht, aber das ist Unsinn. Die entscheidende Frage ist nämlich: Kann ich meinen Körper so benutzen, dass ich damit singen kann? Manche können das intuitiv, andere müssen es lernen, aber lernen kann es jeder. Anstatt um Stimmbänder, Stimmlippen und Mundhöhle geht es beim Singen viel mehr um Körperhaltung, um die Atmung und – um den Beckenboden.

Ach! Immerhin weiß ich um seine bedeutende Rolle in der Sexualität, aber beim Singen, wer hätte das gedacht. Natürlich ist der Beckenboden ein Muskel bzw. eine Ansammlung von Muskeln und kein Sexualorgan. Man braucht ihn zu allem. „Leider lernt man das nicht unbedingt bei jedem Lehrer“, erzählt Ines Theileis, diplomierte Gesangspädagogin und Sprecherzieherin in Berlin Friedrichshain. „Oft muss man sich das mühsam und durch lange Erfahrung selbst erarbeiten. Richtig gute Sänger benutzen ihren Beckenboden, und das hört man“, erklärt sie weiter. Ich spüre es sofort am eigenen Leib. Dabei ist es nicht so, dass die Stimme den Beckenboden führt, sondern umgekehrt. Der Beckenboden führt die Stimme, er führt sie durch den ganzen Körper, durch den Bauch, die Brust die Kehle hinauf. Wer mit dem Beckenboden singt, hat den Sex quasi in der Stimme. Sie kann also gar nicht anders als erotisch klingen. Zugegeben, zum Singen gehören auch Mut und Leidenschaft und Selbstinszenierung, auch dies sind sexuell anziehende Eigenschaften. Aber selbst als „Unwissender“ hört man das sexuelle Potential intuitiv in der Stimme. Menschen, die so mit ihrem Beckenboden umgehen können, müssen einfach heiß sein.

Dabei hat natürlich jede Zeit ihre Ideale, nicht nur was körperliche Schönheit und Mode betrifft, sondern auch bei der Stimme – passend zur Sexualmoral der jeweiligen Zeit übrigens. Im Europa der 50er Jahre zum Beispiel sangen die Frauen im wahrsten Sinne des Wortes zusammengekniffen. Und Soul, für den man definitiv einen lockeren, offenen Beckenboden braucht, kam nicht ohne Grund zur Zeit der sexuellen Befreiung um 1968 in Mode.

Im Gesangsunterricht bei Ines Theileis lernt man nicht „schön“ zu singen. Singen ist nicht brav, singen ist Rebellion, Dreistigkeit, Schmerz und Leidenschaft. Bei Ines singt man mit „Dreck“ in der Stimme, gern als wäre man schlecht gelaunt, kampflustig oder betrunken. Die Bühne ist der einzige Ort, an dem schlecht gelaunte Frauen sozial akzeptiert sind und gar gefeiert werden. Und nachdenken ist beim Singen auch nicht erwünscht. „Am besten ist es, wie eine Wundertüte in der Welt zu stehen und einfach drauflos zu singen“, sagt Theileis. Das klingt einleuchtend, aber nebenbei muss man auch noch locker bleiben, den Po nicht anspannen, den Kopf zurück nehmen und weiter atmen – und das nicht nur irgendwie, sondern richtig und mit einer Intensität, die wirklich anstrengt. Dabei bekommt nicht nur die Stimme einen Waschbrettbauch. Aber wenn dann mal alles klappt und der Beckenboden die Führung übernimmt, dann fühlt sich der Ton, der einen durchströmt und in die Welt hinaus hallt, einfach enorm an.

Die Idee Gesangsunterricht zu nehmen, gärte schon länger in mir. Ich wollte schon immer singen können, traute mich aber nie. Als die Kinder klein waren, sang ich ihnen zum Einschlafen vor, sonst aber kaum, nicht einmal unter der Dusche, aus Angst, die Nachbarn oder sonst wer könnten es hören und darunter leiden. Bei Karaoke machte ich nie mit, egal wie betrunken ich oder die anderen waren. Dabei war es keine Frage der Schüchternheit, denn ich hätte jederzeit nackt auf dem Tisch getanzt. Aber singen – niemals. Am Anfang des Jahres war ich es so leid, mir selbst den Spaß zu verderben, dass ich endlich zur Tat schritt. Gleich nach der ersten Stunde bei Ines Theileis war ich vollkommen aus dem Häuschen und komplett angefixt. Das mit der Körperhaltung kannte ich schon vom Sport, die Handhabung des Beckenbodens vom Sex. Die Fähigkeiten waren also eigentlich schon alle da, ich musste sie nur richtig einsetzen lernen.

Für den Anfang einigten wir uns auf 12 Unterrichtsstunden, das Minimum für unvorbelastete Schüler, um erste Grundlagen notwendiger Körperbeherrschung und Atemtechnik zu erlernen und die eigene Stimme kennen zu lernen. Das Lied-Repertoire ist dabei nicht vorher festgelegt, es kann Jazz, Rock, Pop, klassisches Repertoire oder irgendeine andere Form der Musik gesungen werden. Je nach Gemütsverfassung darf geschrien, provoziert und geklagt werden, Hauptsache es kommt von ganzem Herzen. Da kennt Ines Theileis kein Pardon. Der Gesangsunterricht erscheint mir wie eine sehr angenehme und konstruktive Form der Psychotherapie, nur dass es dabei nicht um Probleme geht, sondern um richtungsweisende Potentiale. „Gerade viele Männer, die herkommen, bringen eine enorme Emotionalität mit, die sie im Alltag vielleicht nicht so benennen und ausleben. Ich frage mich oft, ob die besungenen Frauen wissen, was für tiefe Gefühle diese Männer ihnen entgegenbringen“, sinniert Ines Theileis.

Dabei ist Gesang nichts Statisches, das ein Leben lang gleich bleibt. Die Stimme verändert sich mit dem Alter und anderen Lebensumständen. Wer man ist und wo im Leben man gerade steht, spiegelt sich auch im Gesang wider. Auch das wird beim Unterricht berücksichtigt. In der Schwangerschaft zum Beispiel singt man viel intensiver. Und wenn man um die enorme Rolle des Beckenbodens beim Singen weiß, verwundert es nicht, dass Gesangsunterricht auch und besonders nach der Entbindung hilft, um zum (sexy) Ich zurückzufinden, sowohl muskulär als auch emotional.

Übrigens kann alles, was dem Singen dient, auch dem Sprechen zugute kommen. Wer, statt zu singen, auch beim Sprechen wirklich gehört und ernst genommen werden will, und sei es von den eigenen Teenagern, oder wer Schwierigkeiten beim Reden vor einer Menge hat, dem hilft gezieltes Sprechtraining enorm. Für mich ein wunderbarer Nebeneffekt, für den allein es sich schon gelohnt hat, Gesangsstunden zu nehmen.

Ich singe jetzt fast täglich, probiere alles aus, was ich immer schon mal singen wollte, und meine Nachbarn können sich echt nicht beklagen. Letztens musste ich, um Eintritt zu einer Party zu erlangen, am Eingang singen. Während sich meine Begleiter schwer taten, legte ich sofort los – ein für mich phänomenaler Erfolg. Ich freue mich schon auf die nächste Karaoke-Gelegenheit – und auf die nächsten Gesangsstunden, die ich mir zu Weihnachten schenken lassen werde.

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