Flegeljahre der sexuellen Revolution

Bis ins späte Mittelalter wurden Ehebruch und Unzucht im christlichen Abendland scharf verfolgt und bestraft. Männer wie Frauen wurden aus Angst vor dem Zorn Gottes gleichermaßen dafür an den Pranger gestellt, in die Verbannung geschickt oder gar zum Tode verurteilt. Zuerst herrschte darin eine gewisse Geschlechter-Gleichberechtigung, später gab man den Frauen ganz nach biblischem Vorbild die Schuld an dem Laster. Sie galten als Verführerinnen unschuldiger Männer, als von Natur aus verderbte, niedere und sexuell unersättliche Wesen.

Während der Zeit der Aufklärung, genauer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, kehrte sich das Bild komplett um. Mit dem Einsetzen der hin und wieder als „erste sexuelle Revolution“ betitelten Periode, von der jedoch in erster Linie nur wohlhabende Männer von Stande profitierten, kamen die Libertins auf. Frauen wurden damit zunehmend – und oft zu Recht – als hilflose Opfer männlicher Zügellosigkeit angesehen und nicht mehr als schamlose Täterinnen. Im Laufe weniger Dekaden wurden aus lüsternen Dirnen plötzlich keusche reine Wesen, die nur durch die unsittlichen sexuellen Begierden der Männer zu Unzucht verführt und ins Unglück gestoßen wurden.

Der in Briefform verfasste Roman Fanny Hill von John Cleland (1709 – 1789) erschien ganz im Sinne dieser neuen gesellschaftskritischen Strömung, die männliche Höflichkeit, Zurückhaltung und Tugend propagierte und die Literatur und Bühnen seit den 1730er Jahren vollkommen beherrschte. Fanny, die als unbescholtenes fünfzehnjähriges Waisenmädchen nach London kommt, beschreibt darin unverblümt ihre Lebensgeschichte. Die strotzt zwar vor erotischen Details, doch dient dies angeblich nur zur Schilderung ihres Leides, denn die Umstände zwingen Fanny, ihren Lebensunterhalt durch Prostitution zu verdienen. Tatsächlich sind die sexuellen Einzelheiten deutlich aus männlicher Perspektive betrachtet, die ausführlich die weiblichen Reize beschreibt und den Männern außer einer eindrucksvollen Potenz kaum Attribute mitgibt. Im Laufe der Zeit entwickelt Fanny großes Geschick und Gefallen an der erotischen Kunstfertigkeit und unterhält einen höchst zufriedenen Kundenstamm. Als einer ihrer älteren Gönner Fanny schließlich sein Vermögen vererbt, verlässt Fanny das Bordell und heiratet, denn natürlich steht das seelische Glück weit über dem körperlichen Genuss, wie immer wieder betont wird.

Fanny Hill ist gleichermaßen für seinen expliziten Text wie die unzähligen pikanten Illustrationen der unterschiedlichen Ausgaben bekannt. Unmittelbar nach seinem erstmaligen Erscheinen 1749 in London wurde das Buch verboten, aber wie so oft sorgte der Skandal für Ruhm genug, um das Werk unvergessen zu machen – und natürlich wurde es immer wieder heimlich gedruckt und verbreitet.

Diese Aquarell-Zeichnung entstammt einer französischsprachigen Ausgabe von 1940, die gänzlich auf rosafarbenem Papier gedruckt wurde. Seinerzeit war Paul-Émile Bécat (1885 – 1960), der Schöpfer des Bildes, hochproduktiv im Illustrieren meist erotischer Werke, angefangen von Ovids „Liebeskunst“ bis hin zu Voltaires „Candide“. Dass er ursprünglich mit Ölporträts zeitgenössischer französischer Schriftsteller Bekanntheit erlangte, ist über seine Karriere als Buchillustrator in Vergessenheit geraten.

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